ANC in Kopfhörern – Warum die vollständige Abschirmung nicht nur etwas Gutes ist
ANC wird immer mehr zum Standard selbst in günstigen Kopfhörern und auch, wenn es bei der Qualität noch deutliche Unterschiede gibt, werden Störgeräusche besser denn je von den Ohren ferngehalten, damit der Musikgenuss ja in keinster Weise gestört wird. Als ich dieser Tage aber wieder mal einen Fußgänger auf dem Radweg anklingelte, der meine Signale dank seiner Kopfhörer einfach nicht wahrnehmen konnte, stellte ich mir die Frage: Ist ANC überhaupt so toll oder schadet es uns allen am Ende nicht mehr, als das es hilft?
ANC ist eine faszinierende Technologie
Zugegeben, die formulierte Frage ist etwas provokant gestellt. Was ich gar nicht in Abrede stellen möchte, ist, wie beeindruckend die Technologie ist. Ich selbst nutze Kopfhörer mit ANC (active noise cancelling) erst seit wenigen Monaten, aber schon als ich die Technik vor längerer Zeit und in einem früheren Entwicklungsstadium das erste Mal ausprobierte, war ich hin und weg davon. Bei allem technischen Verständnis bereitet mir die Idee, dass es „Anti-Schallwellen“ gibt, die den Klang quasi ins Gegenteil verkehren, bis heute Kopfzerbrechen. Man kann nicht anders als darüber zu staunen, was mittlerweile alles möglich ist.
Und natürlich ist die Funktion oft sinnvoll. Im Flugzeug habe ich etwa immer Probleme, zu entspannen oder gar zu schlafen, und das erste Mal ANC in meinen Kopfhörern zu aktivieren war ein wahrer Segen – auch wenn es den Sitz nicht bequemer gemacht hat. Dass sich Menschen in der Öffentlichkeit danach sehnen, sich zurückziehen und für sich sein zu können, ist ebenfalls verständlich. Wem kann man verübeln, dass er oder sie nach einem langen Arbeitstag von der Lautstärke einer vollen Straßenbahn nichts mitbekommen möchte? Schaut gerne in unsere Themenwelt Audio; Tim und Fabian testen ständig neue ANC-Kopfhörer für uns und das mit Begeisterung.
Wir verfolgen die Entwicklung von ANC mit Begeisterung und behandeln das Thema in vielen Artikeln hier auf der Webseite oder auch in Videos auf unserem YouTube-Kanal.
Wenn man gar nichts mehr wahrnimmt
Um aber zu meinem Eingangsbeispiel zurückzukommen: Hier zeigte sich die Kehrseite dessen, was an den abschirmenden Lautsprechern im Ohr eigentlich so toll sein sollte. Der Träger hat zwar seine Ruhe und kann sich voll und ganz auf sein Lieblingsalbum oder den aktuellen Podcast konzentrieren. Er nimmt aber notgedrungen weniger von seiner Umgebung war (genau das ist ja Sinn und Zweck des Ganzen), was für seine Mitmenschen unter Umständen gar nicht so toll ist. In diesem Fall musste ich am Ende eben doch stark abbremsen, um den Fußgänger, der in Gedanken auf dem Radweg spazierte und die Klingel nicht hörte, nicht über den Haufen zu fahren. Gleiches galt für die drei Radfahrer hinter mir, die anschließend alle nur kopfschüttelnd im Schritttempo am Verursacher dieses Mini-Staus vorbeifahren konnten.
Am gleichen Tag nur fünf Minuten später – und das war letzten Endes der Auslöser für diesen Text – hatte ich ein ähnliches Erlebnis, bei dem wieder Kopfhörer die einfache Kommunikation verhinderten. An einer Ampel fiel einer jungen Frau beim Anfahren ein Volleyball aus ihrem Fahrradkorb. Sie merkte davon nichts, ich rief ihr noch hinterher, sah aber schon die cremefarbenen Pods in ihrem Ohr. Keine Chance. Es dauerte eine Weile, ehe ich und eine andere Radfahrerin, die den Ball aufgesammelt hatte, sie einholen konnten.
Nun haben beide Fälle nicht zwingend etwas mit ANC zu tun. Wer seine Musik laut genug aufdreht und auf die Gesundheit seiner Ohren wenig gibt, der hört auch ohne ANC nichts von seiner Umgebung. Und auf dem Fahrrad sollte man generell keine Kopfhörer tragen, zumindest nicht in beiden Ohren, und hier zusätzlich ANC zu aktivieren setzt dem Ganzen nur noch die Krone auf. Dennoch: Die aktive Geräuschunterdrückung sorgt nochmal mehr dafür, dass man von seiner Umgebung weniger wahrnimmt. Wie oft sieht man jetzt schon jemanden hektisch aufspringen, weil er die Ansage der Haltestelle nicht gehört hat und sie beinahe verpasst? Mir ist das auch schon selbst passiert und es ist einer der Gründe, warum ich persönlich ANC oder all zu laut aufgedrehte Kopfhörer nicht mag. Wirklich nichts mehr hören zu können löst in mir ehrlich gesagt Unbehagen aus. Und In-Ear-Kopfhörer mit Silikonpolstern schirmen bereits von sich aus sehr gut gegen Umgebungsgeräusche ab. Selbst ohne aktive Geräuschunterdrückung nehme ich jedes Mal leicht beschämt die Kopfhörer aus den Ohren, wenn mich beispielsweise jemand nach dem Weg fragt, sich dafür aber offensichtlich mehrfach wiederholen und bis auf kurze Distanz an mich herantreten musste, weil ich dank Smartphone und Kopfhörern wirklich nichts mitbekommen habe.
Wie isoliert will man sein?
Und damit bin ich auch beim eigentlichen Punkt. Ab wann geht die Abschirmung, die wir im Alltag gegenüber anderen Menschen wollen, zu weit? Seit Jahren spricht man darüber, dass an jeder Haltestelle, in jedem öffentlichen Fortbewegungsmittel, selbst in Gesellschaft anderer Menschen immer mehr Leute nur auf ihr Smartphone starren. Was aber ebenso Normalität geworden ist und in meiner Wahrnehmung weniger oft erwähnt wird, sind (kabellose) Kopfhörer in allen Ohren. Dass die Kabel langsam zu verschwinden scheinen hat zwar nicht nur Vorteile; Kopfhörer sind aber in ihrer Größe so praktisch wie nie. Ich habe mein Paar im Ladecase immer in der Jackentasche. Wenn man sich im Berufsverkehr mal in der Bahn umschaut, sieht man Kopfhörer in mehr als der Hälfte der Ohren (wobei es bei den Altersklassen noch große Unterschiede gibt).
Bei allem Verständnis dafür, dass man seine Ruhe haben will – wie viel Ruhe sollte man in der Öffentlichkeit haben? Um sich herum nichts wahrzunehmen ist nicht nur etwas Gutes. Es beginnt damit, dass man eine Fahrradklingel oder eine Durchsage am Bahnsteig nicht mehr hört. Was aber, wenn man es nicht mehr wahrnimmt, angesprochen zu werden, ohne dass einem das Gegenüber mit der Hand vor dem Gesicht winkt? Was, wenn man Fragen überhört? Oder einen Ruf um Hilfe?
Das mag dramatischer klingen, als es in den meisten Fällen ist. Unrealistisch ist aber keines der Beispiele. Die Frage, ob wir uns wirklich immer mehr abschirmen und auch in der Öffentlichkeit ins Private zurückziehen müssen, sollte erlaubt sein. Und eine Technologie, die ausdrücklich genau dafür gedacht ist und den Träger darin bekräftigt, ist dann eben nicht nur positiv zu sehen. Es würde nicht schaden, den Ton in den Ohren mal nicht bis zum Anschlag aufzudrehen oder die aktive Geräuschunterdrückung auch mal ausgeschaltet zu lassen, um sich seiner Umgebung und den Menschen darin gewahr zu machen. Man kann nur froh sein, dass sich AR-Brillen nicht durchgesetzt haben (und VR es im öffentliche Raum hoffentlich nie wird), sonst träfen wir auf immer mehr Menschen, die nicht nur taub sondern auch blind für alles sind, was um sie herum passiert.
Am Ende ist es wie so oft nicht die Technologie selbst, die das Problem ist, sondern das, was wir damit machen. Wer sich Ruhe wünscht und diese zum Entspannen oder ablenkungsfreien Arbeiten braucht, für den ist ANC eine großartige technologische Errungenschaft und dem sei das auch gegönnt. Ich sehe es aber eben auch als weiteren Baustein der Mauern, die wir um uns herum in der Öffentlichkeit errichten. Bei aller Freude an der Technik sollten wir diese nicht zu hoch bauen.
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